Interview mit Kawther

Interview Kawther

Kawther hat Politikwissenschaften und Public Policies studiert. Sie ist Essayistin, Aktivistin für Frauenrechte und Mitbegründerin der Stiftung Femmes pour le Développement rural en Algérie (Frauen für die Entwicklung von ländlichen Gegenden in Algerien). Sie reist leidenschaftlich gern und interessiert sich für lokale Kulturen.

Was treibt dich im Leben an? Gibt es etwas, das du in Algerien gerne ändern würdest? Kämpfst du für etwas?

Ich liebe Kunst, ich denke, Kunst ist das beste Ausdrucksmittel. Ich persönlich tanze sehr gerne, es ist eine wunderschöne Art und Weise, sich mit seinem Körper auszudrücken. Obwohl ich als Kind keinen Tanzunterricht nehmen konnte, wollte ich als Erwachsene diese Gelegenheit ergreifen und habe letztes Jahr angefangen, Ballettkurse zu besuchen.

Ich wünsche mir, die Situation der Frauen in Algerien zu verändern. Ich träume von einer Gesellschaft, in  der Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen und in der die Frau frei ist, ihr Leben voll und ganz zu leben und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Bist du Mitglied eines Kollektivs oder eines Vereins? Wenn ja, was sind dessen Visionen, Ziele und Werte?

Mit einer Freundin habe ich die Stiftung Frauen für die Entwicklung von ländlichen Gegenden in Algerien gegründet. Wir möchten durch soziale Projekte, die vor allem mit Frauen arbeiten, zu einer nachhaltigen Entwicklung von ländlichen Gegenden beitragen und die Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen verbessern. Unsere Werte drehen sich um Autonomie, Gerechtigkeit und Solidarität.

Die Ziele des Vereins sind folgende:

- politische und wirtschaftliche Inklusion von Frauen im öffentlichen Raum

- das materielle und immaterielle lokale Erbe aufwerten

- die Menschen über Themen wie Partizipation und die Situation der Frau aufklären

- Förderung von ländlichen Gebieten in Algerien

„Die Nutzung des öffentlichen Raums beruht auf geschlechterbasierten Normen. Männer und Frauen bewegen sich innerhalb der Stadt nicht auf die gleiche Art und Weise, besuchen nicht dieselben Orte, haben nicht dieselben Aufgaben und sind nicht mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert.“ Stimmst du mit diesen Äußerungen überein? Wie erlebst du als Frau den öffentlichen Raum und wann?

Ja, leider stimmt diese Äußerung. Der öffentliche Raum wird von Regeln bestimmt, Frauen können sich nicht so einfach bewegen, denn um in der Öffentlichkeit in Sicherheit zu sein, müssen sie immer beachten, an welchen Orten sie sich um welche Uhrzeiten begeben und sie müssen dabei auch einen gewissen Dresscode respektieren.

Ich verbringe ungern viel Zeit zuhause, ich bin fast jeden Tag draußen, gehe gerne aus. Da ich tagsüber arbeite, entspanne ich mich meistens am Abend, da gehe ich mit Freunden essen oder ins Kino, ins Theater oder zu anderen Veranstaltungen. Das hängt immer davon ab, wieviel gerade los ist. Jedenfalls haben mir Apps wie Yassir, Temtem oder Heetch das Leben gerettet, dadurch kann ich mich nachts viel einfacher fortbewegen und fühle mich dabei sicher. Es ist leider nicht möglich, nachts in Algiers Straßen zu laufen, ohne dabei angegriffen, gekidnappt oder sogar vergewaltigt zu werden.

Die positiven Erfahrungen, die ich in der Öffentlichkeit gemacht habe, waren in weit entfernten ländlichen Gebieten, dort habe ich bei Wanderungen mit Freund*innen in Wäldern oder Bergen sehr schöne Momente verbracht. Das war’s aber auch. Um zum Strand zu gehen, muss man immer einen männlichen Freund mit sich haben, sonst würden junge Männer uns belästigen. In den algerischen Großstädten kannst du kaum aus dem Haus, ohne angemacht oder beleidigt zu werden. Das hängt natürlich vom Ort ab. Als ich jünger war, wurde ich in zwei verschiedenen Städten belästigt, da war ich noch in der Schule bzw. an der Uni.

Was fehlt aus deiner Sicht den Frauen im öffentlichen Raum Algiers? (Sicherheit, Infrastruktur, das Gefühl, sich die Stadt zu eigen zu machen)

Es fehlt an vielem, zunächst einmal am öffentlichen Bewusstsein dafür, dass Frauen das Recht haben, in der Öffentlichkeit zu sein, und dass dieses Recht durch keinerlei Uhrzeit, Dresscode oder auf irgendwelche Orte begrenzt ist. Wenn eine Frau in der Öffentlichkeit belästigt wird, sollten alle Menschen drumherum reagieren, um sie zu schützen und nicht um sie zu beschuldigen, als wäre sie der Täter und nicht das Opfer.

Zweitens denke ich, dass es für die Sicherheit der Frau im öffentlichen Raum mehr Infrastruktur bedarf: öffentliche Beleuchtung, mehr öffentliche Verkehrsmittel in der Nacht, mehr Verbindungen zwischen Kommunen und Dörfern, mehr Sicherheit in den Verkehrsmitteln, rund um die Uhr offene Cafeterias und öffentliche Toiletten.

Wie würdest du den idealen öffentlichen Raum in Algier beschreiben? Was wünscht du dir?

Zunächst würde ich sagen: breitere und sauberere Straßen, auf denen man gehen kann, ohne das Gefühl zu haben, in einen exklusiv männlichen Ort einzudringen, an dem uns Männer wie Außerirdische behandeln. Das Verhalten von Männern auf der Straße muss unbedingt thematisiert werden, sie halten die Straße für ihr Eigentum und sehen Frauen als Eindringlinge.

Ich würde mir wünschen, mehr Frauen an Orten zu sehen, die seit Jahren nur durch Männer besetzt werden, wie beispielsweise öffentliche Plätze. Ich würde mir wünschen, Frauen in der Nacht sorglos herumlaufen zu sehen und ohne, dass sie zum letzten Bus oder Taxi rennen müssen.

Algerien hat jüngst eine Protestbewegung, den Hirak, erlebt, hat dies eine Rolle für die Frage der Frauen und des öffentlichen Raums gespielt?

Die algerische Frau hat seit jeher schon viel zur Entwicklung unserer Gesellschaft beigetragen, als Beispiel sei hier nur ihre Rolle im Befreiungskampf erwähnt. In all diesen Etappen bis hin zum Hirak hat die Anwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum niemanden gestört, solange sie einem kollektiven Ziel diente, aber sobald der Krieg oder der Hirak vorbei sind, kommen so blöde Äußerungen wie: „Dein Platz ist in der Küche“. Es gibt also auf jeden Fall ein Problem. Die Geschichte und die Realität haben uns gezeigt, dass die Frau in schwierigen Zeiten gebraucht wird, aber sobald es darum geht, die Beute unter sich aufzuteilen, wird sie an die Seite gedrängt. Was den Hirak angeht, finde ich, dass sich nichts verändert hat, im Gegenteil. Man merkt, dass die Sicherheitskräfte an Ansehen in den Augen der Bevölkerung verloren haben und dass sie gleichzeitig weniger gut arbeiten. Das führt dazu, dass die Leute sich eher erlauben, Frauen in der Öffentlichkeit zu belästigen.

Die ganze Welt wurde durch Covid durcheinandergebracht, wie hat sich deine Beziehung zum öffentlichen Raum dabei geändert?

Die Pandemie, der Lockdown, die Ausgangssperre und die Schließung von Freizeitorten haben vieles verändert, aus Vorsicht gehe ich viel seltener raus. Meine Freund*innen treffe ich bei mir oder bei ihnen zuhause, wobei wir alle Vorsichtsmaßnahmen beachten. Neben meiner alltäglichen Routine habe ich es trotzdem geschafft, ab und zu auszugehen, aber immer noch viel weniger als ich es vor Covid gewohnt war. Ich glaube, mit der Vorsicht und der Angst haben wir viel von der Lust und der Freude am Ausgehen und am Abenteuer verloren.

Die Anzahl von Femiziden hat in den letzten zwei Jahren aufgrund des Lockdowns zugenommen, man zählt mehr als 85 tote Frauen seit Januar 2020. Woran liegt das deiner Meinung nach? Wie fühlst du dich in deinem Privatraum im Vergleich zu deinem Gefühl in der Öffentlichkeit?

Was die Femizide angeht, muss betont werden, dass diese Frauen durch Familienmitglieder in ihrem eigenen Haushalt getötet wurden, diese Morde geschehen also nicht in der Öffentlichkeit. Ich habe mich im Rahmen meiner Arbeit zu Genderfragen für dieses Phänomen der Femizide interessiert, dabei ist mir aufgefallen, dass man immer versucht, den öffentlichen Raum für Frauen sicher zu machen, obwohl es oft ihr privater Raum ist, der unsicher und gefährlich ist. Ich kann dir keinen Grund für diese Femizide angeben, denn ich kenne die Opfer nicht, aber es sind oft familiäre und private Gründe, die dem Täter das Gefühl geben, dass es erlaubt ist, das Opfer zu töten, solange es sich um seine Frau, seine Tochter, seine Schwester oder sogar seine Mutter handelt, was wirklich tragisch ist.

In meinem privaten Raum fühle ich mich sehr wohl, egal ob bei mir oder bei meinen Eltern bzw. bei der Familie. Ich habe mich bei mir zuhause noch nie in Gefahr gefühlt, im Gegenteil, bei meinen Eltern fühle ich mich sehr sicher, was ja normal ist. Für Frauen ist es allerdings sehr schwer, allein oder in einer WG zu leben, sei es in Algier oder in anderen algerischen Städten. Die meisten Vermieter wollen nur an Familien vermieten, wenn du also eine ledige Frau bist oder eine Gruppe von Single-Frauen, lehnen sie dich ab, das ist echt ein Hindernis. Wenn die Vermieter manchmal doch einer Gruppe von Frauen zusagen, verlangen sie, dass die Frauen um eine gewisse Uhrzeit wieder nach Hause kommen, nicht zu laut sind, keinen Besuch erhalten usw. Ich bin seit einigen Jahren im Zentrum Algiers Mieterin und möchte auch dort bleiben, weil es in den Vororten noch schwieriger ist, vor allem in den ärmeren Vierteln, dort wird man wirklich unter die Lupe genommen und alle erlauben sich, Tag und Nacht Bemerkungen zu dir zu machen. Im Zentrum Algiers ist es einfacher, dort gibt es mehr Frauen, die Wohnungen mieten, und die Menschen sind offener. Ich gestehe mir einfach meine Anwesenheit im öffentlichen Raum zu, trotz der Blicke und der Kommentare. Ich möchte dem trotzen und zeigen, dass die Öffentlichkeit auch mir gehört, und mir keiner das nehmen kann. Das ist, glaube ich, das einzige Mittel, wie Frauen sich den öffentlichen Raum aneignen können: Indem sie ohne Rücksicht auf Regeln diese Orte für sich beanspruchen und dort anwesend sind.

Was sind deine Lieblingsorte und wieso?

In meiner Wohnung hier in Algier sind mein Lieblingsorte mein Zimmer und der Balkon, dort trink ich gerne Kaffee. Bei meinen Eltern ist es das ganze Haus, jede Ecke hat ihren Charme, vor allem aber die Terrasse und der Garten, wo ich mich ausruhe und in mich gehen kann. Diese Orte musste ich mir aber nicht erkämpfen, das kam ganz natürlich.

Kannst du dir vorstellen, an einem öffentlichen Ort an unserem Spiel „Ein Spiel für unseren Platz“ teilzunehmen?

Ja, sehr gerne.