Interview mit Sabrina

Interview Sabrina

Die 25-jährige Sabrina ist Absolventin der Handelsschule HEC in Algier. Die soziale Unternehmerin und Aktivistin für Frauenrechte arbeitet derzeit als internationale Beraterin im Bereich Jugendarbeit und digital community building, sie interessiert sich zusätzlich leidenschaftlich für Musik und Theater.

Kannst du uns mal erzählen, was dich im Leben antreibt?

Musik ist wirklich das, was mich im Leben am meisten antreibt. Dann kommen das Theater und spontanes Reisen. Es gibt so vieles, was ich in Algerien gerne ändern möchte. Zunächst einmal den Status der Kunst, auch den der Künstler*innen und natürlich den der Frauen. Ich kämpfe in Vollzeit für die Gleichheit zwischen den Geschlechtern, für eine inklusive und vom Einfluss monotheistischer Religionen freie Bildung und auch dafür, dass jeder von klein auf Kunst wahrnehmen darf.

Ich bin ebenfalls Mitglied in mehreren Vereinen, Netzwerken, Gruppen bzw. Kollektiven. All diese Communities teilen einen gemeinsamen Wert, das ist der Feminismus, den ich mittlerweile als menschlichen Wert betrachte. Die Abwesenheit von Feminismus in einem Verein ist für mich unmenschlich und würde mich davon abhalten, diesem beizutreten. Mein Ziel ist es, das Thema Gender allgemein zugänglich zu machen, die Menschen zu sensibilisieren und mich und die Gruppe zu einem gendersensibleren Verhalten auszubilden, denn der Prozess der Dekonstruktion ist sehr lang.

Bist du eher mit dem Auto oder mit den Öffentlichen unterwegs? Wie erlebst du den öffentlichen Raum?

Im Zentrum Algiers, wo ich mich meistens bewege, bin ich zu Fuß unterwegs, ansonsten mit dem Fahrrad. Ich bin normalerweise sehr viel in der Öffentlichkeit, in Coworking-Spaces, Cafés, Parks, Bibliotheken oder auf Märkten. Ich führe ein sehr aktives und unvorhersehbares Leben, ich erlebe den öffentlichen Raum also ständig und in jeder Jahreszeit, aber leider muss ich sagen, dass ich sehr viel schlechte Erfahrungen mache. Dieses Interview erlaubt mir, davon zu berichten, danke dafür. Ich habe eine Anekdote zu erzählen, die gleichzeitig positiv und negativ ist: 2017 wurde ich früh um 07:30 auf dem Weg zur Arbeit in Mostaganem von einem der vielen dort anwesenden Perversen belästigt. Und obwohl ich das nie erwartet hätte, kam ein Polizist und hat den Typen während dieser doch sehr „normalen“ Belästigungssituation strikt in die Schranken gewiesen. Ich konnte es kaum glauben. Das war für mich ein Aha-Erlebnis, denn es sollte ja normal sein, dass die Polizei für die Sicherheit der Bürger*innen eintritt. Ich kann gerne einen allgemeinen Überblick über das tägliche Zusammenleben auf der Straße geben. Ich komme aus einer kleinen Stadt im Westen Algeriens, einer Region, die für ihren Humor und ihre Offenheit bekannt ist, in meiner Stadt kennen sich alle. Diese Details mögen unwichtig erscheinen, aber viele meiner Interaktionen hängen mit diesem kulturellen Hintergrund zusammen, zum Beispiel mein Akzent. Ich bin z. B. jemand, die gerne und freundlich mit dem Hausmeister, dem Taxifahrer oder dem Gemüsehändler spricht. Aber Vorsicht, bei gewissen Dingen hört die Freundlichkeit auf, da ändere ich komplett meine Strategie und schütze mich durch Arroganz, Wegschauen oder durch verbale Selbstverteidigung. Es ist echt anstrengend, ständig zwischen diesen zwei Zuständen zu wechseln. Ich muss immer bereit sein, auf Attacken zu reagieren, indem ich meine Spontaneität und meine natürlichen Reflexe eingrenze und zügle. Dazu kommt, dass ich eine eher kleine Person bin und das in einer auf Pädophilie ausgerichteten Gesellschaft (die Pornostatistiken beweisen es). Im Austausch mit anderen Frauen meiner Umgebung ist mir bewusst geworden, dass ich auf der Straße doppelt so viel belästigt werde wie der Durchschnitt. Natürlich sei nochmals daran erinnert, dass einzig und allein der Belästiger schuldig ist, ich meine nur, dass ich eine beliebte Beute bin. Die durch meine Locken verursachten Beleidigungen und andere Perversitäten, die mit meiner Brille zusammenhängen (auch hier Pornokultur), lasse ich hier mal aus.

Was fehlt deiner Meinung den Frauen im öffentlichen Raum? Was wäre für dich der ideale öffentliche Raum?

Zuallererst kommt Sicherheit, ohne Sicherheit machen andere Investitionen keinen Sinn. Der Beweis dafür, dass es eigentlich nicht an Infrastruktur mangelt, ist, dass Männer unglaublich viel zu tun haben. Es gibt genauso viele Orte, wie es Hürden für Frauen gibt. Die Worte Ideal und Algier passen in meinem Kopf schlecht zusammen. Sollte es ein Ideal geben, sehe ich darin genauso viele Polizisten wie heute, aber anstatt mich zu belästigen oder Demonstrant*innen zusammenzuschlagen, weisen sie die Belästiger zurecht. Ich würde mir wünschen, Frauen weniger ängstlich, anders angezogen zu sehen und dass sie sich nicht nach einem von ich weiß nicht wem (doch ich weiß es schon: dem Mann) etablierten Kodex richten: Frauen auf dem Fahrrad, auf Caféterrassen, allein in der Bar, beim Joggen auf der Straße, also Sachen, die Männer tagein tagaus machen!

Hat der Hirak in dieser Hinsicht eine Veränderung bewirkt?

Einerseits ja, die sozialen Medien haben massiv Bilder von demonstrierenden Frauen, von Künstlerinnen und von Aktivistinnen verbreitet, zwar nicht immer mit einer guten Absicht, aber zumindest werben sie für uns und es dient auch meinem Kampf. Natürlich schließe ich davon jegliche Angriffe und Drohungen aus, die die Frauen während der Hiraks auf den sozialen Medien erlebt haben. Die Realität, die ich erlebt habe, war aber eine andere als die in den sozialen Medien. Die verbalen und physischen Belästigungen, die „wesh kharrej rabbek“ (was hast du hier draußen zu tun), das „Khawa-Khawa“ (Brüder-Brüder) zwischen Männern oder das ungesagte an Frauen gerichtete „qawdi dokhli“ (geh nach Hause) und viele andere Beispiele zeugen davon. 2019 bin ich mit meinem damaligen Freund auf die Straße gegangen und während er von fremden Männern als Zeichen von Wohlwollen, Brüderlichkeit und Algerischsein Lächeln, Wasserflaschen und Zurufe von „Salut Sahit“ bekam, wurde ich im selben Moment durch Blicke oder Hände belästigt. Anders, als es die sozialen Medien vermittelten, fühlte ich mich nicht in Sicherheit. Dabei stört es mich nicht unbedingt, dass die Medien dieses Bild vermitteln, denn dadurch werden andere Frauen ermutigt, auf die Straße zu gehen und, so irreal diese Eindrücke auch sind, bleiben sie dadurch im allgemeinen Bewusstsein verankert und helfen der Gesellschaft, sich weiterzuentwickeln.

Die ganze Welt wurde durch Covid durcheinandergebracht, wie hat sich deine Beziehung zum öffentlichen Raum dadurch verändert?

Covid hat den Graben zwischen den Geschlechtern aufgezeigt, der schon immer existierte. Diese Krise hat uns bewusst gemacht, dass die Frauen immer nur für einen konkreten Grund auf der Straße sind, wenige Frauen gehen raus, um einfach so in der Öffentlichkeit zu sein und sich zu entspannen. Sie sind auf der Straße, weil sie zur Arbeit gehen, in geschlossene Cafés gehen, zu Freundinnen in geschlossene Häusern, sind manchmal eingesperrt, gehen schnell mal einkaufen. Um sich sicher zu fühlen, gehen sie immer in Begleitung raus oder begeben sich in Menschenmassen. Seit Covid ist das Leben ein Abenteuer geworden, einige suchen nach verbotenen Orten, dunklen Cafés oder geheimen Stränden, die aber immer nur dem Lebensstil der Männer entsprechen. Während Covid ist so ein gewisser „Breaking-the-rules“-Stil wieder aufgekommen, der aber aus Sicherheitsgründen nur Männern vorbehalten ist. Das liegt nicht daran, dass Frauen nicht abenteuerlustig sind, aber wir müssen es uns immer doppelt überlegen, ob wir ein Abenteuer eingehen, sei es mit anderen Frauen oder in gemischten Gruppen. Covid hat die Frauen also noch mehr eingesperrt. Ehrlich gesagt, habe ich mich zwischen März und Mai 2020 beim Ausgehen in Algier echt unwohl gefühlt, die Straßen waren leer und die Anwesenheit von Perversen nahm zu. Die fühlten sich sicherer und waren präsenter, weil immer weniger Frauen da waren.

Die Anzahl von Femiziden hat in den letzten zwei Jahren aufgrund des Lockdowns zugenommen, man zählt mehr als 85 tote Frauen seit Januar 2020. Woran liegt das deiner Meinung nach? Wie fühlst du dich in deiner Privatsphäre?

Ich habe immer eine Privatsphäre für mich gehabt, die ich mir erkämpft habe, das ist meine Bubble, die mich aufnimmt, wenn nichts mehr geht. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es nichts Gefährlicheres gibt als mit seinem Aggressor zusammenzuleben, vor allem, wenn man finanziell nicht unabhängig ist oder anderswo keine Unterstützung hat, sei es von Eltern oder Freund*innen. Die Gründe sind für mich mathematisch, es ist pure Wahrscheinlichkeit. Einige Algerier waren schon immer gewaltsam im Umgang mit Frauen, insbesondere mit denen aus ihrer Familie. Wenn es davor zu weniger Morden kam, liegt es daran, dass Männer und Frauen sich einfach nur weniger begegnet sind.

Wie erlebst du deinen eigenen Privatraum im Vergleich zum öffentlichen Raum?

Ehrlich gesagt, finde ich den Horror des öffentlichen Raums nicht vergleichbar mit der Angst im Zusammenleben. Beide sind sehr unangenehm, aber es sind zwei verschiedene paar Schuhe. Ich merke aber, dass die Schwachstellen, die Leute auf der Straße gegen mich benutzen, dieselben sind, die man in meinem Privatraum gegen mich verwendet. Ich bin eine unabhängige junge Frau, die vor Ort keine Unterstützung hat, die von anderswo kommt, klein und im Vergleich zu Bewohner*innen von Großstädten relativ naiv. Das wird sehr oft gegen mich verwendet, sei es durch Verwandte oder durch Unbekannte, natürlich in unterschiedlichem Ausmaß. Mein Zimmer bleibt dabei mein Lieblingsort, das ist in einer WG auch normal. Auch in der Küche zu sein, tut mir unglaublich gut, wenn sich gerade niemand anderes dort befindet.

Kannst du dir vorstellen, an einem öffentlichen Ort an unserem Spiel „Ein Spiel für unseren Platz“ teilzunehmen?

Yes please, auf jeden Fall!