Interview mit Melissa

Interview Melissa

Die 20-jährige Melissa studiert Geologie und Geodynamik von Sedimentbecken. Sie interessiert sich leidenschaftlich für so ziemlich alles und nimmt am Projekt Speakup teil, das für die Wichtigkeit der Autonomie von Frauen in der algerischen Gesellschaft wirbt.

Hallo Melissa, danke für dieses Treffen. Kannst du sagen, was dich im Leben inspiriert?

Vieles inspiriert mich, ich denke, dass es vor allem kleine Handlungen sind, die eine echte Veränderung hervorbringen können. Ich bin Teil des Projekts Speakup, ein nicht-politisches und nicht-religiöses Projekt. Wir denken, dass mangelnde Bildung und Unwissen die Ursprünge für viele Probleme hier in Algerien sind und möchten Informationen über das Thema Frauen in Algerien teilen und darauf aufmerksam machen. Wir möchten Frauen dazu ermutigen, sich zu emanzipieren und dabei auch über schwierige und verbotene Themen in Algerien sprechen: Gewalt, Femizide, Ungleichheit in der Öffentlichkeit und innerhalb der Familie. Wir sehen es als unsere Aufgabe, einen Dialog zu ermöglichen und die algerische Jugend zu inspirieren, indem wir für die Werte Respekt, Menschlichkeit und Gleichheit einstehen. Unsere Vision ist es, eine algerische Gesellschaft zu schaffen, die sich der Wichtigkeit der Emanzipation der Frau bewusst ist. Dafür möchten wir vor allem mit jungen Menschen arbeiten.

Bist du eher mit dem Auto oder mit den Öffentlichen unterwegs? Wie erlebst du den öffentlichen Raum?

Ich laufe sehr viel und benutze auch oft die öffentlichen Verkehrsmittel. Ehrlich gesagt, mag ich das sehr, auf öffentliche Verkehrsmittel ist immer Verlass. Aber als Frau ist es oft sehr unangenehm, manchmal ist es sehr voll; ich habe einmal eine Panikattacke bekommen. Zwar wurde ich noch nie körperlich belästigt, aber es gibt viele aufdringliche Blicke, die wirklich unangenehm sind. Manche erlauben sich auch, Kommentare über deinen Kleidungsstil zu äußern. Zum Glück trage ich immer meine Kopfhörer, da höre ich meistens nicht, was gesagt wird. Eines habe ich beobachtet: Wenn ich allein rumlaufe, werde ich viel weniger angesprochen, als wenn ich mit Freundinnen unterwegs bin, das liegt womöglich an meiner Glatze, die den Leuten Angst macht. Nein im Ernst, ich denke, das liegt an meiner Art, selbstbewusst zu gehen, und das läuft bisher eher gut. Im Allgemeinen antworte ich auf solche Kommentare auch nicht, das ist es mir nicht wert. Als ich aber eines Tages ein Kleid mit Schlitz trug, kam mir ein Typ entgegen. Und obwohl er am Telefonieren war, hat er sich nicht verkneifen können, mir zu sagen: „Ich gib dir einen Faden und eine Nadel, um den Schlitz zuzunähen“, da habe ich ihm entgegnet: „Benutz sie doch selber, um deine Klappe zuzunähen“. Ich bin einfach weitergelaufen, aber ich kann mir vorstellen, dass er geschockt war. Ich bin jemand, der die Öffentlichkeit voll und ganz für sich einnimmt, ich gehe manchmal um sechs Uhr morgens aus dem Haus, kleide mich, wie ich möchte und habe auch keine Probleme, wenn ich mich mit anderen Frauen vergleiche.

Denkst du, dass Frauen und Männer öffentliche Orte auf dieselbe Art und Weise erleben?

Nein, es gibt Orte, Tages- und Jahreszeiten, die für Frauen gefährlicher sind als andere. In meinem Viertel fühle ich mich wohl, aber die Gesichter einiger fremder Personen können mir manchmal schon Angst machen, das ist traurig, aber es ist so. Heute zum Beispiel bin ich sehr früh aus dem Haus, da ich Halsschmerzen hatte, bin ich ins erste Straßencafé in Algier gegangen, um mir einen Tee zu bestellen. Die Männer im Café waren total erstaunt, el kahwa ist ein Ort, der ausschließlich Männern zusteht, das finde ich schade. Was die Jahreszeiten angeht, gibt es auch hier Unterschiede. Im Fastenmonat Ramadan kann ich bis ein Uhr nachts draußen sein und fühle mich dabei sicher, das ist sonst nicht der Fall.

Was fehlt deiner Meinung nach den Frauen im öffentlichen Raum?

Ich glaube, dass die Infrastrukturen allen Frauen zugänglich sind, wir haben alles Nötige, um uns auf der Straße sicher zu fühlen, das Problem liegt für mich in der Mentalität der Menschen. In einigen Familien lernen Mädchen zu schweigen und Männer lernen, dass sie machen können, was sie möchten. Ich habe auch bemerkt, dass einige Frauen ihre Rechte in der Öffentlichkeit nicht kennen, das liegt in erster Linie an Unwissen. Man sieht z. B., dass einige in den sozialen Medien eine Vergewaltigung oder sogar einen Mord für gut heißen. Alles geht also auf Erziehung und auf Werte zurück.

Welche Wirkung hat der Lockdown auf Frauen gehabt?

Der Lockdown während der Pandemie hat meiner Meinung nach eine positive und eine negative Wirkung für Frauen gehabt. All die Frauen, die normalerweise beim Rausgehen tagsüber ihren Familien entkommen konnten, mussten nun zuhause bleiben und wurden manchmal von ihren Brüdern, Vätern und Ehemännern geschlagen. Mir ist aufgefallen, dass nach dem Lockdown auffallend viele Frauen draußen waren, ich glaube, sie hatten es einfach satt, monatelang zuhause eingesperrt zu sein. Was die positive Seite des Lockdowns für Frauen angeht, habe ich festgestellt, dass viele kleine Projekte entstanden sind, in denen Frauen sich entfalten konnten. Für eine patriarchale Gesellschaft gibt es schon relativ viele Frauen, die ihre eigenen Projekte aufbauen und ihre Träume verwirklichen, das finde ich echt inspirierend.

Für mich persönlich hat der Lockdown einen positiven Impakt gehabt, denn ich konnte all das, was ich früher aus Zeitgründen nicht machen konnte, in dieser freien Zeit endlich erledigen. Zum Beispiel habe ich mein Zimmer neu gestylt, den Ort, wo ich zuhause am meisten Zeit verbringe. Ich bin auch oft auf dem Weg zu meiner Großmutter spazieren gegangen, ich bin gerne draußen und freue mich, mit euch an „Ein Spiel für unseren Platz“ teilzunehmen.